Veränderung beginnt im System, nicht beim Individuum
In der klassischen Sichtweise auf Führung und Management wird das Individuum oft in den Mittelpunkt gestellt. Diese personen-zentrische Perspektive geht auf die Ideen von Sigmund Freud zurück: Der Mensch und seine inneren Antriebe stehen im Fokus, man "arbeitet am Individuum". Diese Denkweise prägt zahlreiche Ansätze im Change Management, wo Führungskräfte dazu angehalten werden, an den persönlichen Einstellungen und Verhaltensweisen ihrer Mitarbeiter zu arbeiten, sie zu motivieren, zu inspirieren und zu verändern.
Doch damit greift man zu kurz. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann bringt eine fundamentale Erkenntnis ins Spiel: Der Mensch verhält sich nicht im luftleeren Raum. Vielmehr existiert er in sozialen Systemen, die ihn prägen, formen und sogar in seinem Verhalten beeinflussen. Luhmanns Systemtheorie stellt die Frage: Was wäre, wenn wir nicht primär am Individuum arbeiten sollten, sondern am System, das das Verhalten des Einzelnen bedingt?
Individuum vs. System: Zwei Welten prallen aufeinander
Während der personen-zentrische Ansatz das Individuum ins Visier nimmt, verfolgt die Systemtheorie eine radikal andere Stoßrichtung. Luhmann zeigt auf, dass soziale Systeme nicht aus Menschen bestehen – eine provozierende Feststellung auf den ersten Blick. Stattdessen bestehen sie aus Operationen, genauer: aus Kommunikationen. Menschen tragen zur Kommunikation bei, sie führen sie jedoch nicht. Das System sorgt gewissermaßen für das Verhalten eines Menschen, indem es Resonanz erzeugt. Ein Mitarbeiter „resoniert“ mit seiner Umgebung; er passt sich systemkonform an, nicht, weil er passiv ist, sondern weil das System ihn so prägt. Die Organisation als System schafft die Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Individuum handelt.
Damit geht die Systemtheorie über die Grenzen der Betriebswirtschaftslehre hinaus, die traditionell auf Veränderung und Optimierung fokussiert ist. Die BWL will gestalten, intervenieren und kontrollieren, sie strebt Verbesserung an. Die Systemtheorie hingegen will beobachten und beschreiben. Sie deckt auf, warum sich Menschen in Organisationen so verhalten, wie sie es tun – nicht, weil sie „falsch“ oder „unmotiviert“ sind, sondern weil das System, in dem sie agieren, bestimmte Verhaltensweisen begünstigt oder unterdrückt.
Das Immunsystem der Organisation: Warum Veränderung so schwer ist
Organisationen haben Mechanismen, die sich gegen Veränderung wehren – sie funktionieren wie ein Immunsystem. Die Systemtheorie legt offen, dass es nicht das Individuum ist, das Veränderung blockiert. Vielmehr ist es die Organisation selbst, die über subtil wirkende Schutzmechanismen verfügt, die als „Immunantworten“ gegen Veränderungsversuche fungieren.
Für Führungskräfte bedeutet dies, dass sie sich selbst die Frage stellen müssen: „Was tue ich dazu, dass der andere sich so verhält, wie er sich verhält?“ Menschen widersetzen sich nicht per se der Veränderung; sie widersetzen sich dem Versuch, verändert zu werden. Nur wenn der institutionelle Rahmen stimmig ist, kann individuelles Verhalten wirklich beeinflusst werden. Ein Appell an das Individuum ist wirkungslos, wenn die strukturellen Rahmenbedingungen nicht mit dem gewünschten Verhalten im Einklang stehen.
Was wirklich zählt: Der institutionelle Rahmen
Hier liegt der Kern des systemischen Ansatzes: Führung sollte sich nicht nur an Menschen wenden, sondern an die institutionellen Bedingungen, die das Verhalten der Menschen lenken. Wenn ein Veränderungsprozess scheitert, liegt das häufig daran, dass nur am Individuum angesetzt wird, während die Strukturen, die das Verhalten begünstigen, unangetastet bleiben. Change Management, das sich rein auf die personen-zentrische Sichtweise verlässt, greift zu kurz und führt selten zum Erfolg, weil es die „unveränderbaren“ Rahmenbedingungen nicht hinterfragt.
Fazit: Zuerst das System, dann der Mensch
Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, doch die Reihenfolge ist entscheidend. Zuerst muss der institutionelle Rahmen geschaffen werden, der das gewünschte Verhalten überhaupt ermöglicht. Danach kann die Arbeit am Menschen folgen. Nur wenn das System so gestaltet ist, dass es erwünschte Verhaltensweisen begünstigt, macht die Arbeit am Individuum Sinn.
In einer zunehmend komplexen Welt ist die Systemtheorie ein notwendiges Korrektiv zur allzu engen Fokussierung auf das Individuum. Sie fordert uns heraus, den Einfluss von Organisationen und Systemen auf das Verhalten der Menschen zu erkennen und anzuerkennen. Die Zukunft der Führung liegt nicht in der Veränderung des Einzelnen, sondern in der Gestaltung der Strukturen, die das Verhalten aller prägen.